Zwangsstörungen bei Kindern - Erscheinungen und Aussehen
Das Erwachsenwerden ist kein einfacher Prozess. Jedes Kind erlebt diese Zeit ähnlich im Hinblick auf die körperlichen Veränderungen und doch auch wieder ganz unterschiedlich, ist doch keine Familie wie die andere, keine Erfahrung identisch. Jedes Leben hat seine ureigene Geschichte. Im Alter zwischen 6 Jahren und 14 Jahren ist nicht nur der Körper mit einer Vielzahl hormoneller Umstellungen beschäftigt, sondern auch die Psyche muss Höchstleistungen vollbringen. Sie muss ein Selbst bilden, erste Enttäuschungen überstehen, sich in Interaktion mit der Umwelt behaupten und zwischen Freund und Feind unterscheiden lernen. Keine leichte Aufgabe, wenn das Kind Unterstützung durch die Familie erfährt, aber um wie viel schwieriger, wenn die Eltern ihm keine Sicherheit in seiner Erprobungsphase geben können, weil sie selber krank sind oder keine Zeit haben? Die Seele, die sich noch keine wehrhafte Rüstung zulegen und noch keinen Rückzugsort hat finden können, ist den Erschütterungen der Kindheit und Pubertät wehrlos ausgeliefert. Magische Rituale, sinnlose "Wort-Lallereien", wie sie auch gesunde Kinder eine Zeit lang benutzen, um ihre Ängste in Schach zuhalten, verselbstständigen sich und gewinnen die Oberhand.
Das Zählen der Stofftiere beim Zubettgehen wird akribisch betrieben, Händewaschen wird zur Hauptbeschäftigung und das Kind verbringt viel zu viel Zeit alleine in seinem Zimmer, es isoliert sich mehr und mehr. Die Freunde in der Schule beginnen sich zu wundern, wagen aber oft nicht, das betroffene Kind anzusprechen. Wird das Kind bei seinen Zwangshandlungen gestört, kommt es nicht selten zu impulsiven Angst- oder Gewalt-Reaktionen.
An diesem Punkt gilt es aufzumerken und achtzugeben, denn hier könnte sich eine Zwangsstörung ankündigen, denn unabhängig von seinem Verhalten nach außen, geschieht heimlich, fast unbemerkt, die wahre Dramaturgie im Innern. Im Innern der kindlichen Seele wüten Angst und Schmerz gegen Verteidigungsstrategien.
Die Zwangsstörung ist zusätzlich noch eine Meisterin der Verschleierung; kommt sie doch oft in Gestalt einer Tic-Störung daher, die nicht selten in einem Fall von Zwangssymptomatik diagnostiziert wird, oder die Erkrankung des Kindes wird einer Autismusspektrumsstörung zugeordnet, was ebenfalls fatale Folgen für den Verlauf der Zwangsstörung hat. Wie auch immer im Anschluss an eine Fehldiagnose behandelt werden würde, die Zwangsgedanken und -handlungen werden nicht verschwinden, vielmehr besteht die Gefahr, dass sich die Störung chronifiziert. Jeder Arzt ist jedoch befähigt, die Anzeichen der Erkrankung richtig zuzuordnen. Bevor wir hier noch darauf eingehen, was genau eine Zwangsstörung bei Kindern ausmacht, muss festgehalten werden, dass ihre Früherkennung von großer Bedeutung für den weiteren Krankheitsverlauf ist. Mediziner und/oder Psychotherapeuten verfügen über standardisierte psychodiagnostische Verfahren zur Früherkennung der kindlichen Zwangsstörung, denn je früher die Erkrankung erkannt wird, desto besser ist ihre Prognose. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Trennung der Krankheitsbilder, die unter Umständen mit der Zwangsstörung einhergehen oder sie überlagern können. Komorbide Störungen sind zum Beispiel Angststörungen, Depressionen, Tic-Störungen oder ADHS.
In Deutschland leiden ungefähr 2 Prozent aller Kinder unter einer Zwangsstörung. Die Erkrankung tritt in der Regel auf zwischen dem 7. und dem 12. Lebensjahr und ist ebenso häufig bei Mädchen wie bei Jungen. Auf die gesamte Weltbevölkerung bezogen, kommt die Zwangsstörung in allen Ethnien, in allen Bevölkerungsschichten ungefähr gleich häufig vor.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es Verhaltensweisen gibt, die in der Kindheit auftauchen, um einige Zeit anzuhalten und dann von alleine wieder verschwinden. Diese Rituale sind normal und weit verbreitet. Sie halten sich in der Regel nicht länger als 4 Monate. So beobachten wir Kinder, wie sie auf dem Gehweg Steine zählen oder über die Zebrastreifen springen, wie sie ihre Lieblings-Stofftiere gegenüber den Geschwistern verteidigen oder Einschlafrituale gegen verborgene Monster haben. Das ist Teil der kindlichen Entwicklung, wenn es darum geht, mit schwierigen Lebenssituationen fertigzuwerden. Von einer Zwangsstörung spricht man erst, wenn die Rituale von dem Kind selber als unangenehm erlebt werden, es sich aber nicht dagegen wehren kann, wenn es zu starken emotionalen Ausbrüchen kommt, sobald ein Fremder versucht, sie an den Zwangshandlungen zu hindern. Der Therapeut unterscheidet zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, die unabhängig voneinander auftreten können oder zusammen. Zwangshandlungen sind beispielsweise Wasch- und Putzzwänge oder Wiederholungs- und Zählzwänge.
Zwangsgedanken hingegen spielen sich alleine in der Vorstellungswelt des Kindes ab. Die Angst vor Verschmutzung und auf diese Weise durch Bakterien krank zu werden oder sich und andere zu verletzen, weil die Impulskontrolle fehlt, beeinträchtigt die Erlebniswelt des Kindes massiv. Zwangsgedanken werden darüber hinaus von der Umwelt beeinflusst, in der das Kind lebt und von seinem Lebensalter. Religiöse Zwangsgedanken sind nicht in allen Kulturkreisen gleichermaßen mit Angst belegt, pubertäre Phantasien sind im Kleinkindalter selten, sie entstehen erst in späteren Jahren. Zwangshandlungen ohne eine starke Beteiligung von Zwangsgedanken sprechen besser auf eine Therapie an, da der Therapeut bei Zwangsgedanken zunächst einmal "Aufdeckungsarbeit" leisten muss, um die Gedanken anschließend therapeutisch bearbeiten zu können.