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Decodierungsstörung bei Kindern - Teil 1

1. Definition und Bedeutung des Begriffs DecodierungsstörungDecodierungsstörung Mädchen

Kinder erlernen im Laufe ihrer Entwicklung die Fertigkeiten des Lesens und des Schreibens. Wenn der damit verbundene Prozess in einer spezifischen Form beeinträchtigt ist, kann eine sogenannte Decodierungsstörung die Ursache sein. Der Begriff Decodierung steht hierbei für die Fähigkeit, die jeweiligen Schriftzeichen zunächst korrekt zu erkennen und daraufhin folgerichtig auszusprechen.

Vor allem die Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) ist als Decodierungsstörung bekannt. Ein möglichst frühzeitiges Erkennen macht für die gesamte weitere schulische Laufbahn den entscheidenden Unterschied. Wird die Problematik nicht erkannt oder langfristig ignoriert, erleben Kinder in ihrer Schulzeit dauerhaft ein hohes Maß an Frustration beim Lesen und Schreiben. Auswirkungen auf die soziale und auch emotionale Entwicklung sowie auf das Selbstwertgefühl sind meist die Folge.

1.1. Begriffsklärung und historische Entwicklung

Das Wichtigste vorab: Entgegen häufig immer noch bestehender Annahmen hat eine Decodierungsstörung nichts mit einem Mangel an Intelligenz oder fehlender Lernbereitschaft zu tun. Vielmehr sind konkrete neurobiologische Defizite die Ursache für bestehende Probleme einerseits beim Erkennen und andererseits beim Verarbeiten von Schriftzeichen. Betroffene Kinder haben Schwierigkeiten, eine Verbindung zwischen den geschriebenen Symbolen (Graphemen) und den zugehörigen Lauten (Phonemen) zu erkennen.

Die Ursprünge des Störungsbildes finden sich bereits im 19. Jahrhundert. Damals wurde die Legasthenie als eine spezifische und isolierte Form der Leseschwäche definiert. Im weiteren Verlauf der Forschung gilt die Legasthenie hingegen als nur ein Aspekt eines umfassenderen Spektrums an unterschiedlichen Lernschwierigkeiten. Die zugrunde liegenden Ursachen sind vielschichtig und multifaktoriell. Im Fokus steht immer eine differenzierte Betrachtung vor dem Hintergrund der jeweils individuellen Beeinträchtigungsmerkmale, mit denen ein Kind konfrontiert ist.

Heute ist der Umgang mit einer Decodierungsstörung eingebettet in ein komplexes System, bestehend aus Diagnostik, präventiven Maßnahmen und therapeutischen Angeboten. Sie alle haben zum Ziel, die Fähigkeiten von Kindern beim Lesen und Schreiben nachhaltig zu fördern und ihnen so eine normale Schulzeit zu ermöglichen.

1.2. Abgrenzung zu anderen Lernstörungen

Für das grundlegende Verständnis ist es entscheidend, die Decodierungsstörung von den verschiedenen anderen Lernstörungen deutlich abzugrenzen. So ist weder die Rechenschwäche noch ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) eine Decodierungsstörung. Bei der Rechenschwäche steht das Unvermögen, ein mathematisches Konzept zu erfassen und sinnvoll anzuwenden, im Fokus. ADHS hingegen basiert auf einer unzureichenden Aufmerksamkeitsfokussierung und
Impulssteuerung. Beide können sich indirekt auf das Lernen eines Kindes auswirken, sind aber eigenständige Phänomene.

Eine Decodierungsstörung tritt durchaus in vielen Fällen gemeinsam mit anderen Formen von Lernstörungen auf, und es kann Überschneidungen bei den einzelnen Symptomen geben. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Decodierungsstörung ausschließlich auf die schriftliche Verarbeitung von Sprache beziehen und nicht auf die generelle Sprachentwicklung.

All dies macht eine umsichtige und präzise Diagnostik unbedingt erforderlich, um sinnvolle Interventionen anbieten zu können. Die Differenzierung der jeweiligen Störungsbilder ist hierbei sowohl für die Fachkräfte als auch für die Eltern und Bezugspersonen relevant, damit Kinder richtig und vor dem Hintergrund ihres tatsächlichen Bedarfs unterstützt werden können.

1.3. Bedeutung für die kindliche Entwicklung und das Lernen

Eine Decodierungsstörung kann sich sehr unterschiedlich auf die kindliche Entwicklung auswirken. Wenn Kinder feststellen, dass Lesen und Schreiben für ihre Mitschüler kein nennenswertes Problem darstellt, hat dies oftmals negative Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein. Auch die Motivation und die damit verbundene Freude am Lernen sind deutlich beeinträchtigt. Viele Kinder können im Unterricht nicht ausreichend mithalten und fühlen sich dadurch frustriert und auch isoliert. Wird eine bestehende Decodierungsschwäche nicht behandelt und das Kind nicht gefördert, hat es deutlich erschwerte Voraussetzungen beim Zugang zu Bildung. Lernen ohne Lesen und ohne das Begreifen von Sprache macht ein Mitkommen in den meisten Schulfächern unmöglich. Kinder brauchen ein positives Lernumfeld, das ihnen Freude macht und ihre Bedürfnisse aufgreift. Das ist nicht nur wichtig für die Verbesserung von schulischen Leistungen, sondern insbesondere für das Selbstbewusstsein und die emotionale Befindlichkeit.

Lesekompetenz ist der Schlüssel für jeden Wissenserwerb. Kinder mit einer Decodierungsstörung brauchen sowohl eine frühe Diagnose als auch eine frühe Förderung. Sie können lernen, ihre Lernschwierigkeiten zu kompensieren, ohne Beeinträchtigungen in ihrer schulischen und später auch beruflichen Laufbahn in Kauf nehmen zu müssen.

2. Ursachen und Risikofaktoren

Die Ursachen und Hintergründe einer Decodierungsstörung haben sowohl eine genetische als auch eine umweltbedingte Komponente. Die Berücksichtigung beider Bereiche ist Voraussetzung, um möglichst effektive Interventionsangebote machen zu können. Auch Präventionsprogramme basieren immer auf der
Integration beider Aspekte.

Bei den neurobiologischen Grundlagen des Lesens und des Schreibens übernehmen genetische Hintergründe eine wichtige Funktion. Die bestehenden Zugangsmöglichkeiten zu frühen Förderungen und zu Bildung überhaupt zählen zu den Umweltfaktoren. Je genauer und umfassender das Verständnis für beide Bereiche und ihr Zusammenwirken ist, desto hilfreicher ist es für die Identifizierung individuell geeigneter Unterstützungsmaßnahmen.

2.1. Genetische Ursachen und familiäre Veranlagung

Bei der Entstehung einer Decodierungsstörung spielen genetische Faktoren eine zentrale Rolle. Bestimmte Gene gelten als erhöhter Risikofaktor für ihre Entstehung. Sie können Einfluss nehmen auf die Entwicklung von Funktionen und Strukturen des Gehirns, die mit dem Erlernen von Lesen und auch Schreiben in Verbindung stehen. Zeigen sich diese Gene verändert, treten Probleme beim Erkennen von Lauten und ebenso beim Entschlüsseln von Wörtern vermehrt auf.

Decodierungsstörung JungeDie zusätzlich bestehende familiäre Häufung lässt sich ebenfalls mit dieser Übereinstimmung erklären. Bestimmte genetische Marker sind für eine Beeinflussung von neurobiologischen Prozessen im Bereich der Verarbeitung von Sprache zuständig. Sollten mehrere Familienmitglieder von einer Decodierungsstörung betroffen sein, ist eine entsprechende genetische Veranlagung möglich.

Auch wenn eine Verbindung zwischen einer Decodierungsstörung bei Eltern und ihren Kindern besteht, bedeutet das nicht, dass eine genetische Prädisposition auch zu einer Entwicklung des Störungsbildes führen muss. Genetische Faktoren interagieren in der Regel immer mit den jeweiligen Umweltbedingungen. Je besser Fördermaßnahmen an diese angepasst werden, umso mehr profitieren betroffene Kinder von den Maßnahmen.

2.2. Umweltfaktoren, psychosoziale Aspekte und der Einfluss auf die Sprachentwicklung

Die Umwelt eines Kindes nimmt wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Sprache. Dies kann sowohl im Sinne einer positiven Förderung sein als auch in hemmender Hinsicht und damit als Einschränkung beim Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeiten. Kinder profitieren von einem Umfeld, das sprachlich insgesamt anregend ist und dazu ermutigt, sich mit Sprache im Alltag auseinanderzusetzen. Das geschieht bereits in frühester Kindheit in Form von Gesprächen mit den Eltern und anderen Bezugspersonen. Auch regelmäßiges Vorlesen hilft Kindern, Sprache zu entdecken und Gesprochenes zu verstehen. Zudem sind interaktive Spiele, die zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit beitragen und dabei den Wortschatz erweitern, hilfreich für die gesamte Sprachentwicklung.

Es gibt jedoch auch eine Reihe an psychosozialen Aspekten, die sich negativ auf die Entwicklung der Sprache auswirken können. Dazu zählen beispielsweise Stress und innerfamiliäre Konflikte, aber auch regelmäßiges Alleinsein und soziale Isolation. Kinder, die wenig sprachliche Anregungen erhalten und mit denen wenig beziehungsweise selten gesprochen wird, haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Decodierungsstörung.

Ein Aufwachsen in eher bildungsfernen Zusammenhängen und mit nur geringem Zugang zu Büchern und Lesemöglichkeiten ist für ein Kind in sprachlicher Hinsicht problematisch. Vielfältige Anregungen durch ein sprachaffines Umfeld sind hingegen wichtig und unterstützend. Entsprechende Umstände können die Ausprägung einer Decodierungsstörung verstärken oder auch abschwächen.

2.3. Frühkindliche Entwicklungsbedingungen

Die frühe Kindheit und die ersten Lebensjahre legen den Grundstein für die gesamte Sprach- und Leseentwicklung. Dieser kritische Zeitraum ist eine wichtige Phase, denn hier lernen Kinder primär durch soziale Interaktion mit dem gesamten Umfeld, besonders jedoch mit den Eltern, ihre ersten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Es gilt, sie zu ermutigen und auch anzuregen, sich mit Wörtern und ihren Bedeutungen vertraut zu machen. Ein stimulierendes Umfeld ist dabei besonders positiv. Umfassende erste sprachliche Erfahrungen tragen erheblich dazu bei, im weiteren Verlauf gute Fähigkeiten in den Bereichen Lesen und Schreiben zu entwickeln.

Wird der Zugang zu frühkindlicher Bildung insgesamt erschwert und ist die Qualität der sprachlichen Interaktion im Alltag eines Kindes nicht ausreichend, kann das in langfristiger Hinsicht Auswirkungen auf die jeweiligen Decodierungsfähigkeiten haben. Je anregender das Umfeld ist und je mehr Unterstützung und Förderung beim Spracherwerb gewährt wird, desto bessere Chancen bestehen für eine umfangreiche sprachliche Entwicklung, auf der das Kind im weiteren Verlauf aufbauen kann.

3. Erste Anzeichen und Möglichkeiten der Diagnostik

Decodierungsstörung BuchstabenJe früher eine Decodierungsstörung erkannt wird, desto hilfreicher sind effektive Möglichkeiten der Intervention. Hier gilt es, bereits erste Anzeichen zu erkennen, etwa durch Fachkräfte im vorschulischen Bereich oder auch durch Beobachtungen der Eltern, die weiter abgeklärt werden können. Der erste Ansprechpartner ist in der Regel der Kinderarzt.

Für eine Diagnosestellung sind evidenzbasierte Verfahren und Tests wichtig. Sie beruhen auf differenzierten Analysen der Lese- und Schreibfähigkeiten eines Kindes. Hierzu ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachkräften relevant, damit ein Kind die bestmögliche Unterstützung erfährt.

3.1. Erkennungsmerkmale in der vorschulischen frühen Sprachentwicklung

Erste Erkennungsmerkmale für eine mögliche Decodierungsstörung zeigen sich bereits in der vorschulischen Zeit. Das erste Erlernen von einzelnen Buchstaben kann hier Probleme bereiten. Auch das Anhören und Wiederholen einfacher Wörter führt bei manchen Kindern zu Schwierigkeiten. Treten diese verstärkt beziehungsweise wiederholt auf, sollte dies genauer beobachtet und gegebenenfalls abgeklärt werden.

Auch Sprachspiele im Kindergarten, häufig im Zusammenhang mit Klatschreimen und einfachen Sprachrhythmen, können Aufschluss über mögliche Probleme geben. Erzieher sind hier angehalten, betroffene Kinder aktiv einzubinden und eventuelle Schwierigkeiten zu beobachten. Auch ein eingeschränktes Verständnis von altersgerechten kleinen Geschichten kann ein Anhaltspunkt sein, wie auch das Unvermögen, etwas Erlebtes nachzuerzählen.

Kinderlieder bieten ebenfalls die Möglichkeit, eine potenzielle Decodierungsstörung zu identifizieren. Kinder tun sich meist leicht mit dem Erlernen einfacher Lieder, vor allem wenn sie auf Reimen und eingängigen Texten und Melodien basieren, die auf Mitsingen ausgerichtet sind. Bei Problemen mit dem Erlernen solcher Lieder ist eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das Kind sinnvoll. Ein begrenzter Wortschatz im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern kann ebenfalls auf eine beginnende Decodierungsstörung hinweisen.

3.2. Diagnostische Verfahren und Tests

Für die Diagnostik einer Decodierungsstörung werden sowohl gezielte Beobachtungen herangezogen als auch standardisierte Testverfahren. Tests messen dabei die spezifischen Fähigkeiten eines Kindes in den Bereichen Lesen und Schreiben. Sie erfassen die Genauigkeit des Lesens, die Geschwindigkeit und auch die phonologische Verarbeitung. Die Fähigkeit, einzelne Buchstaben zu lesen, gehört ebenso dazu wie das Lesen von ganzen Wörtern. Auch Aufgabenstellungen, die beispielsweise das Zerlegen von Wörtern in ihre einzelnen Silben erfordern sowie das Erkennen von Reimen gehören dazu.

Um eine Diagnose abzusichern, werden meist auch Intelligenztests hinzugezogen. Sie sollen sicherstellen, dass eine mögliche Decodierungsstörung nicht mit einer grundlegenden kognitiven Beeinträchtigung verwechselt wird. Bei der Diagnostik geht es nicht allein darum, bestehende Schwächen eines Kindes zu erfassen, sondern auch dessen Stärken, um eine zielgerichtete Unterstützung anbieten zu können.

Im Fall einer bestehenden Beeinträchtigung wird das genaue Ausmaß bestimmt, um auf dieser Basis eine Grundlage für das Erstellen von Fördermöglichkeiten zu haben. Jede Intervention orientiert sich dabei an den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen eines Kindes und muss auch für die Umsetzung im jeweiligen Alltag praktikabel sein.

3.3. Zusammenarbeit mit Fachkräften und Eltern

Um Kindern mit einer Decodierungsstörung sinnvoll helfen zu können, ist eine langfristige Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und Eltern wesentlich. Dabei unterstützen Logopäden, gegebenenfalls Psychologen und Lehrer die Eltern, die eine zentrale Rolle im gesamten Prozess spielen. Sie sind es, die häufig als erste mögliche Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben feststellen. Eine regelmäßige Kommunikation und auch der Austausch von relevanten Informationen zu den Fördermaßnahmen sind Voraussetzung, um Kinder bestmöglich begleiten zu können.

Eltern können ihren Kindern sehr helfen, indem sie Übungen zur Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz im häuslichen Umfeld fortführen. Sie sind besonders wichtige Partner sowohl für ihre Kinder als auch die Fachkräfte und sollten entsprechend aktiv in alle Gespräche rund um Diagnostik und Maßnahmen eingebunden werden. Die Förderung wird im schulischen Kontext durch individuelles Eingehen auf die Bedürfnisse von Kindern fortgesetzt. Die konkreten Fördermaßnahmen werden meist von Logopäden oder auch Lerntherapeuten mit den Kindern umgesetzt.